Die Jungs von Tokio Hotel sind allesamt in der im Untergang begriffenen DDR zur Welt gekommen, aufgewachsen in der dem Westen zugewandten Zone – und zurechtgemacht vom Musikbranchenriesen Sony BMG. Damit handelt es sich bei Tokio Hotel um das neue, das wahre, das erfolgreiche Gesicht Deutschlands, ob wir wollen oder nicht. Und für die Kritiker alle miteinander: die Tokio Hotels wünschen sich nur eine bessere Welt, und es ist allemal besser, wenn eure Kinder Tokio Hotel hören als Killerspiele… oder Aggro… oder Drogen… oder Doktorspiele… oder nicht?
Das Doppelherz von Tokio Hotel, der Sänger Bill Kaulitz und der Gitarrist Tom Kaulitz sind eineiige Zwillinge. Das sieht man nicht sofort, ist allerdings inzwischen sattsam bekannt. Die beiden, das merkt man, wenn man Interviews und Auftritte von Tokio Hotel bestaunt, sind das Herz der Gruppe. Das unterstreichen auch die Schreie der weiblichen Fans, ihre Banner, ihre Bemalungen. Der Bassist Georg Listing und der Schlagzeuger Gustav Schäfer sind weniger schmückendes als notwendiges Beiwerk zu Tokio Hotel.
Bill und Tom (Jahrgang 1989) wachsen in Magdeburg auf, werden, wie sie immer wieder betonen, von ihrem Stiefvater in ihren musikalischen Bedürfnissen beharrlich unterstützt. Auch Gustav ist Magdeburger, ein Jahr älter und damit ein Jahr jünger als Georg, der gebürtiger Hallenser ist (das Hans-Dietrich-Genscher-Halle an der Saale, manchmal könnte man meinen, dass Tokio Hotel nicht nur die Wendeband sondern auch der neuerliche Versuch ist, die Welt zu erobern).
Tokio Hotel - Devilish
Die Geschichte von Tokio Hotel geht so: Bill textet bereits einige Jahre und Tom spielt bereits einige Jahre Gitarre, Musik ist das Ziel. 2001 haben sie einen kleinen Gig in Magdeburg, dabei treffen sie die Herren Gustav und Georg. Gustav ist ein für sein Alter erfahrener Schlagzeuger, Georg steht vermutlich einfach etwas unglücklich in der Gegend rum. Man ist sich schnell einig: Tokio Hotel muss her, Devilish wird die Band zunächst heißen, soll die Pupsis wahrscheinlich härter machen – der Name spielt vielleicht auch auf das mutige Auftreten des Frontmannes an – Bill ist früh schwarz behaart, geschminkt und mit Sicherheit ein beliebtes Opfer für die Grobschlächtigen in der Klasse. Bill macht eh den Unterschied für Tokio Hotel. Gerne wird auch die Geschichte von seiner Teilnahme an einer dieser Casting-Shows (Star Search) in jener Zeit erzählt, aus der er sowohl einige Schulterklopfer und eine gute Portion Selbstbewusstsein als auch eine tiefe Abneigung gegen Castingprodukte mitnimmt.
2003 ist Tokio Hotel immerhin schon eine ganze Weile gereift. Man hat sich füreinander entschieden und nutzt die Möglichkeiten, die Metropolen wie Magdeburg bieten: Schulkonzerte. Und die Möglichkeiten, die einem das Schicksal und die Tüchtigkeit bisweilen gemeinsam zutragen: der Musikproduzent Peter Hoffmann, dem Bill aus der Star-Search-Sache im Gedächtnis hängen geblieben ist, arrangiert eine Übereinkunft mit dem Major Sony BMG, stellt ein Expertenteam zusammen (quasi Klinsmanns Hockeytrainer) und geht mit Tokio Hotel in Klausur (immer mit dem Einverständnis der Eltern, Lehrer und so).
Tokio Hotel - Der Name muss ab, die Haare müssen anders
2004 wird gearbeitet. Es ist insgesamt ein recht junges, engagiertes Team mit Peter Hoffmann und Pat Benzner (der Lollipop-Guru ), sowie Dave Roth und David Jost (Bed & Breakfast – aufregend, nach denen zu recherchieren) wird an Songs gewerkelt und ein großer, international verständlicher, sinnfreier Bandname mit einem Beamer an eine Hochhauswand geklatscht. Dem Namen Tokio Hotel hat sich schon so manch ein raffinierter Hase logisch zu nähern versucht, doch selbst die Bandmitglieder scheitern in der Regel kläglich bei dem Versuch, ihn (sich) zu erklären. Tokio Hotel ist allerdings eigentlich ganz logisch, halt Tokio + Hotel. Egal.
Erste Singel...Durch den Monsoon
Und die ist – nun ja – ein Hit. Genauer: ein Nummer-1-Hit in Deutschland und in Österreich und in der Schweiz auf Platz fünf und in Frankreich auf Platz acht. Die alten Besserwessis werden jetzt gähnen, in ihren Backentaschen kramen und dann was von Nena oder so, deutschen Texten und „das waren noch Zeiten“ faseln. Das muss uns Freunde von Tokio Hotel allerdings nicht kümmern. Hier und jetzt sind es Tokio Hotel, die Frankreich rocken und dort vor allen Dingen kleine Mädchen. Auf eins folgt zwei, „Schrei“ ist die nächste Single von Tokio Hotel, nicht mehr ganz so erfolgreich, die Nena-Freunde atmen auf – und das Album „Schrei“, am 19.09.2005 auf dem Markt, beginnt in Europa die Runde zu machen.
Zunächst Polen, Ungarn, Schweiz, Frankreich – zu den Infos über die neuen Tourdaten gibt es noch immer laufend Berichte darüber, wie es die Jungens von Tokio Hotel mit ihrer Schule und die Eltern mit tourenden Pubertierenden halten. Auch muss mal eine Zwangspause eingelegt werden. Damit alle sehen können, dass alles mit rechten Dingen zugeht, gibt es die Tour von Tokio Hotel zu Weihnachten auf DVD „Leb Die Sekunde: Behind The Scenes“. Vivendi Universal weiß halt, was sich gehört.
Universal? Ach ja: Sony hat das Projekt „Tokio Hotel“ kurz vorm Zahltag eingestellt, so kann Universal sich den Goldesel in den Stall stellen.
Es gibt Aufnahmen, da kann man sehen, wie erstaunt die Jungens von Tokio Hotel sind, zwischen gespielter Coolness und gespielter Freude bricht ab und zu ehrliches, freudiges Schaudern durch, wenn sie beispielsweise in Moskau von der Zuneigung der Fans erschlagen werden oder vor dem Mailänder Dom nicht nur singen, und nicht nur vor Publikum, sondern von Mädels umgarnt werden, die wegen Tokio Hotel vor Ort sind und für sie die Texte verinnerlicht haben. Und da ist es wurscht, von wem die Texte letztendlich sind. „Schrei“ ist der von Bill Kaulitz und „Durch Den Monsum“ geht es nur mit Bill Kaulitz.
Die Frauen kippen nach einem heiseren Kreischen in die Ohnmacht, die Bravo bekommt zum 57. Mal noch eine Chance. Dank Tokio Hotel. Was sich zu Merchandising-Zwecken nutzen lässt, wird gebraucht. Die vier Musiker finden sich in ihren Rollen, präsentieren sich zusehends als scharf voneinander abzugrenzende, himmlische Figuren. Die Pose ist erprobt, die Not gebiert Skurriles am Rande: Tokio Hotel bietet den Taxi-Eltern ein separates Unterhaltungsprogramm für die Dauer der Konzerte.
Preise regnen. Tokio Hotel gewinnen gegen alle. Bambi, Comet, Bravo Otto, Goldene Stimmgabel, Echo und EinsLive Krone – die Fans von Tokio Hotel gewinnen den Kreischwettbewerb, die Band sackt die Pokale ein.
2007 folgt das zweite Album von Tokio Hotel. „Zimmer 483“ entert nun auch in Dänemark die Charts, in Deutschland landet es standesgemäß auf Platz eins, in Österreich, der Schweiz und Frankreich immerhin auf dem zweiten Platz, die Single „Übers Ende Der Welt“ ist mindestens ebenso erfolgreich. Im Sommer folgt „Scream“, ein Album mit englischen Versionen der bekannten Hits, damit wird nahezu das komplette restliche Europa erreicht.
Seit 2006 ist mit den Killerpilzen der zur Marktsättigung obligatorische Gegenentwurf zu Tokio Hotel kommerziell erfolgreich. Schließlich mag nicht jeder Tokio Hotel, Erfolg und eigenwilliges Auftreten schafft laute Gegner.
Und nun?
Wir dürfen gespannt sein. Was passiert, wenn einer der Jungs keinen Bock mehr hat? Oder wer bleibt, wenn die kreischenden Mädels älter werden und sich mit süßen Träumen von ihren Angehimmelten und damit Tokio Hotel nicht mehr zufrieden geben? Möglicherweise haben die Jungs auch irgendwann keinen Bock mehr auf das Gekreische und bitten um Ruhe – oder ziehen sich in eine Kirche oder Tropfsteinhöhle zurück… Es kann sehr viel passieren. Aufregend bleibt es bestimmt noch eine Weile.