Warum sollten amerikanische Fans nicht auch steil gehen auf eine deutsche Goth Punk-Boyband, die sich bei HIMs theatralischen Lovesongs und den Kaliforniern von AFI bedient und von einem sexy androgynen Typen mit spektakulärem Haarwuchs angeführt wird, fragte heute die New York Times. Unser Augenzeuge Alex Engelen machte ähnliche Erfahrungen.
Nein, unter normalen Umständen würde ich eher kein Tokio Hotel-Konzert besuchen. Schließlich habe ich weder eine jüngere Schwester, noch möchte ich mein Gehalt für eine, äh, reine Spaßveranstaltung bemühen. Aber wenn Bill Kaulitz & Co. mal in New York spielen und man gerade zufällig in der Gegend ist, dann kann man doch schon mal über den eigenen Schatten springen.
Zudem: Wann sollte ich erneut die Chance bekommen, Tokio Hotel im intimen Ambiente für schlappe 20 US-Dollar (der sympathische Wechselkurs macht daraus läppische 13.80 Euro) zu erleben. Und irgendeiner muss ja Bericht erstatten, wenn sich Deutschlands erfolgreichste (Teenie)-Band daran versucht, die Welt zu erobern.
Nach unglaublichen Erfolgen in Frankreich, Skandinavien und Israel war also jetzt das Mutterland des Rock'n'Rolls an der Reihe: Amerika. Mehr noch - es ging nach New York, ins Epizentrum der Live-Musik, dem Härtetest für das Musikerdasein: If you can make it there, you'll make it anywhere - Frankys Wort in Gottes Ohr. Deswegen schickte sich das Quartett gleich mal an, das nicht ganz unbekannte The Fillmore in New York zu rocken. Eine Bühne, die im Laufe ihres Bestehens bereits Pink Floyd, Led Zeppelin, Frank Zappa und viele mehr beackerten.
Und als ob das nicht schon genug der Ehre wäre, mietete man das Haus gleich für zwei aufeinander folgende Abende an. Der Montag war nämlich bereits nach kurzer Zeit ausverkauft. Knapp 1000 Besucher pro Abend sind zwar Tokio Hotel-untypische Zuschauerzahlen; die zehn in Ohnmacht gefallenen Mädchen hielten jedoch den Rest der gewohnten Statistiken aufrecht. Stadionrock im Kleinformat Das jedenfalls erzählt die junge Dame hinter der Bar, die das Treiben um den "German Hype" nicht so ganz verstehen mag. Ganz anders geht es dem etwa 50-jährigen Familienvater, der seine 13-jährige Tochter und ihre fünf Freundinnen ins Fillmore begleitet.
Ja, auch er liebe die Tokio Hotel-Songs und "Gay Bill" sowieso! Viel weniger sarkastisch klingt es jedoch, wenn er sich kurz darauf über rechts-konservative New Yorker Bürgermeister echauffiert und sich ein wunderbares Amerika unter einem afroamerikanischen Präsidenten ausmalt.
FOTOGALERIE Gespräche werden prompt überflüssig, als sich um Punkt Acht der Vorhang öffnet und ein monotones Geschrei den Kronleuchter-behängten Raum erfüllt. Bill, Tom, Georg und Gustav übernehmen breit grinsend die Bühne und sind offensichtlich erfreut, auch hier im Big Apple gegen ein Kreischen ansingen zu müssen. Stadionrock im Kleinformat: das Kreisch-Level der Schalke-Arena, die Intimität der Dorfbühne.
Wie viele junge Menschen daheim in Deutschland wären wohl gerade gerne an meiner Stelle? Die englischen Songs des germanischen Erfolgsexports treffen offensichtlich auch den Nerv amerikanischer Heranwachsender, die teils in trendy Goth-Kluft, teils in kurzem Röckchen und Abercrombie-Shirt die Fotohandys zu den Songs hin und her werfen. Tokio Hotels Beuteschema ist international, ihre Professionalität offensichtlich auf selbigem Standard.
Bill steht im Mittelpunkt der Show, reißt Arme und Gesichtszüge in bekannte Rock'n'Roll-Posen und verkündet mit dünn gehauchter Stimme, was für eine Freude es ist, hier in New York spielen zu dürfen. Tom schrammelt auf drei verschiedenen Gitarren herum und war wohl in seiner unpassenden Hip Hop-Kluft noch nie so unter Gleichgesinnten, wie in der Rap-Metropole.
Georg steht breitbeinig, wie es nur wahre Bassisten können, am Bühnenrand und will augenscheinlich vom Publikum nichts sehen - die Matte hängt Gardinen-artig vor seinem Gesicht. Gustav schließlich gibt zwar den Takt an, sitzt aber sonst nur mit versteinerter Miene hinter seinen Drums. Die Show gehört Bill und seiner Löwenmähne. Wenn er springt, springen alle.
Und bei den englischen Songs (Debütsingle: "Scream America") kann sogar das Publikum stellenweise den Gesang übernehmen. Während der zwei deutschsprachigen Tracks gelingt das weniger. Eventuell liegt dies auch daran, dass bei der Zugabe die Kondition nicht mehr ausreicht, "Durch Den Monsun" im Original zu brüllen.
Nach 55 Minuten ist schließlich Schluss und Bill Kaulitz from Magdeburg verabschiedet sich lächelnd mit dem Wunsch, wieder zurück kommen zu wollen. Ob ihnen diese Ehre tatsächlich zuteil wird, müssen amerikanische Plattenkäufer und das Tokio Hotel-Management entscheiden.
Mein persönlicher Rückblick des Abends deckt sich ansonsten mit dem des beleibten Schnauzbartträgers, der beim Verlassen des Fillmores die Straßen New Yorks im breiten Pott-Dialekt wissen lässt: "Dat war kein rausgeschmissen Geld!"